Die Vorherrschaft des Autos beenden
 
 
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Editorial  
               
 
21.10.2011

Bäume und die „Verkehrssicherungspflicht“
Wegen „akuter Gefahr“ werden immer wieder Bäume gefällt und zurechtgestutzt.
Alles wegen der "Verkehrssicherungspflicht" - ausgerechnet!


von Frank Möller

Wieviele Menschen sind in den letzten 10 Jahren in Berlin durch die vielen "unsicheren" „Gefahrenbäume“ (Amtsjargon) getötet worden? Gibt es darüber eine Statistik? Ich konnte sie bisher nicht finden. Vermutlich sind es SO wenige Menschen, dass man es nicht für notwendig befindet darüber eine Statistik zu führen.

Dass das Absägen von Bäumen dann ausgerechnet "Verkehrssicherungspflicht" genannt wird ist ein schönes Beispiel für deutsches Neusprech, in dessen Kategorie auch andere herrliche bürokratische Euphemismen gehören, die sich die Deutschen dienstfertig zu Eigen machen, wie z.B. "Entsorgung". "Aus den Augen, aus dem Sinn".

Dabei ist der Straßen-Verkehr die EIGENTLICHE Gefahrenquelle, vor allem der Autoverkehr. 55 Todesopfer verursachte er in Berlin im Jahr 2009. Er tötete 30 nicht-motorisierte Menschen. "Nur" vier waren Autoinsassen. (Im Vergleich zu den Baumtoten allerdings tatsächlich ein Massensterben)
"Verkehrssicherung"? Das Absägen von Bäumen bedeutet in diesem Sinne zu Ende gedacht die Sicherung (im Sinne von Erhaltung) einer Gefahrenquelle.

Wer etwas Phantasie für das Absurde besitzt würde sich in der Zukunft dann auch nicht mehr über die Schlagzeile "Baum gegen Auto gefahren" wundern. Und das ist ja auch die Hauptsorge: es könnte ein Kratzerchen oder gar eine größere Beule ans Statussymbol gelangen, die der „gefährliche“ Baum den Autos zufügt. Und es sind ja auch die Autos die 23 Stunden am Tag, oft unter Bäumen, herumstehen.  Hauptsorge der Ämter: das könnte den Bezirk Geld kosten.
Obwohl: Ist die ganze Herumsägerei an den Bäumen nicht im Endeffekt teurer als eine Versicherung für durch Bäume demolierte Autos? Dazu gibt es doch bestimmt eine Statistik, die unsere Bürokraten schnell ausgraben können. Und wer macht‘s? „Lloyds“, die "Allianz" oder gibt es schon eine Ökoversicherung? Alternativ dazu sägen wir alle Bäume einfach ab, dann ist der Verkehr endlich sicher - vor den Bäumen...
"Verkehrssicherung" von Bäumen ist Bürokraten- und Juristenhysterie: eine Gesellschaft, die mit Hilfe ihrer Gerichte allen Ernstes Kommunen dafür verklagt, wenn sich Bürger an Bäumen verletzen, die vielen Verkehrstoten aber zur Privatsache erklärt, ist wahn-sinnig.

Wer von den Kommunen Schadensersatzzahlungen für Baumopfer und Baumschäden einfordert, der sollte von den Kommunen solche auch für jedes Opfer einer verfehlten Verkehrspolitik fordern – nicht nur (gegebenenfalls) von den FahrerInnen. Dann hätten wir sehr bald sehr viel weniger Tote auf unseren Straßen. Bei der „Verkehrssicherungspflicht“ für Bäume allerdings klammern sich die Bürokraten an Paragraphen und Weisungen, als würde dadurch die Fata Morgana der Baumtoten realer. Man fürchtet Schadensersatzforderungen. Dumm nur, dass es in der Realität schon  seit Generationen so gut wie keine Baumtoten mehr im Straßenbereich gibt, um dem Wahn adäquate Nahrung zu geben.
Was rechtfertigt Verkehrstote im Gegensatz zu Baumtoten? Wir nehmen Verkehrstote offensichtlich in gewissem Umfang billigend in Kauf: So ist das Leben! Der Luxus, der Wohlstand, der Fahrspaß ist es uns wert etc. Bäume und Äste dagegen erschlagen viel, viel, viel seltener Menschen. Wenn überhaupt, dann sollte doch auch hier, und eigentlich noch viel mehr, gelten: So ist das Leben! In der Tat ist ein Baum sehr viel lebendiger als ein Auto. Und welches Lebenssymbol wird von der Waldnation Deutschland öfter verwendet, als der Baum?
Bleibt die Frage: Worum geht es WIRKLICH? In erster Linie, wie schon angedeutet, geht es um die Konkurrenz zwischen  dem Motorisierten Individualverkehr (MIV) und Bäumen. Bürokraten und Gesetzgeber haben sich den Autowahn so weit zu Eigen gemacht, dass sie einer geradezu Mimosenhaften „Verkehrssicherungspflicht“ für Bäume huldigen und somit der bürgerlichen Schizophrenie Vorschub leisten, die einerseits ihre Autos (vermeintlich!) vor Schäden schützen und andererseits nicht auf üppig begrünte Straßen verzichten will, wie die Proteste gegen Baumfällungen immer wieder belegen. Die Bürger werden sich entscheiden müssen oder weiter die absurden Diskussionen und Entscheidungen in den lokalen Parlamenten hinnehmen.

Vorschlag: Wir sollten Bäume als Verkehrsteilnehmer betrachten - freundliche, recht ungefährliche und insgesamt ziemlich berechenbare Verkehrsteilnehmer, immer nur mit Tempo Null unterwegs (jedenfalls in der Horizontale). Außerdem verursachen sie keine Umweltverschmutzung, sondern, im Gegenteil, sie schaffen frische Berliner Luft, wie man am herrlichen Lindenduft im letzten Frühsommer wieder erleben durfte.
Die in den letzten Jahren gefällten Bäume sollten deshalb so bald wie möglich nachgepflanzt werden. Aber Vorsicht! Bürokraten sind nicht nur Experten im Verschleppen, sondern auch Meister der List, wenn es gilt IHRE Ziele anstatt die der Bürger durchzusetzen: die Tendenz geht nämlich zum „Bonsai“-Straßenbaum, der zwar in der Statistik als Baum zu Buche schlägt, der aber, wenn er dann ausgewachsen ist,  nur einen Bruchteil der Biomasse aufweist, als das was sich die meisten Bürger als Straßenbaum wünschen und vorstellen. Deshalb lohnt es sich nachzufragen und den Unterschied zwischen einer Eberesche und einer Platane im Auge zu behalten.

[Auch erschienen in: "Der Rabe Ralf" »Ausgabe Oktober/November 2011]