Die Vorherrschaft des Autos beenden
 
 
Global denken - lokal handeln
 
Editorial  
               
 
7.2.2012

"…den Blick auf diese ungeheuer große Menge zu richten, die uneinig, aufsässig, ohnmächtig ist, die – gelänge es ihr dieses Joch zu brechen – gleich empfänglich wäre für fremdes wie eignes Verderben…" (Seneca - Ad Neronem Caesarem de clementia)

Demokratie ohne Vernunft
Kann eine Bürgerdemokratie „global denken, lokal handeln“ und  begreifen lernen, dass Verzicht eine Bedingung für ihr Überleben ist? Wieviele Kollateralschäden des Wohlstandes ist sie bereit in Kauf zu nehmen, bevor sie sich von dem Glauben an ein ewiges Wirtschaftswachstum abwendet?

von Frank Mankyboddle


Dass es bisher (so gut wie…) keine Kriege zwischen zwei modernen Demokratien gegeben hat, wird immer wieder als Indiz für die pazifistische und soziale Überlegenheit der Demokratie gewertet. Die Demokratie als Allheilmittel gegen den „nuklearen Holocaust“ ist gewissermaßen die letzte verbliebene bürgerliche Utopie und Menschheitshoffnung schlechthin. Ein ähnliches Indiz dafür, dass die Demokratie den globalen Ökozid verhindern kann und wird, gibt es nicht.
Als Steigerung und Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie wiederum, hoffen nun viele frustrierte Wähler, nicht nur in Deutschland, auf die Bürgerdemokratie nach Schweizer Art mit weitreichenden plebiszitären Instrumenten. Aber wie zukunftsfähig ist die plebiszitäre Demokratie im Jahr 2011 wirklich?

„Die Welt von Gestern“

Genau wie es 1918, nach der Abdankung des Kaisers, keine VERNÜNFTIGE Alternative zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts gab, gibt es heute keine vernünftige Alternative zu einem wahrhaft NACHHALTIGEN Wirtschaften und politischen Handeln, einer „Ökokratie“, oder, um der Verwechselung von „Ökologie“ mit „Ökonomie“ vorzubeugen, einer „Biokratie“ – buchstäblich einer „Herrschaft des Lebens“. Aber es ist bezeichnend für den demokratischen Reformstau des noch  jungen 21. Jahrhunderts, der sich von anderen Reformstaus in der Vergangenheit nicht wesentlich unterscheiden dürfte, dass „Skeptiker“ von Anfang an den Begriff der Nachhaltigkeit in Verruf zu bringen suchten und dass, besonders typisch für die heutige digitale Medien-Demokratie, dieser Begriff trotz inflationärer Verbreitung nur homöopathische Wirkung entfaltet. So wie das Verzögern der demokratischen Reformen im Kaiserreich die Katastrophe der Weltkriege auslöste, so steckt die Weltgemeinschaft heute im Reformstau vor der ökologischen Weltkatastrophe.

Suffizienz, Effizienz und Konsistenz 

Dass die „Ökoeffizienz“ von Energiesparlampen und Null-Energie-Häusern, und die „Konsistenz“ der Maschinen, die diese realisieren sollen, ohne die „Suffizienz“ [1] (im Sinne eines umgangssprachlichen „genug ist genug“), aufgrund des so genannten „Rebound“[2], nicht einmal einen nennenswerten Aufschub des ökologischen Niedergangs bewirken, wird in der gesamt-gesellschaftlichen Diskussion, bisher kaum thematisiert. Besonders die Medien versagen hier bezüglich der Aufklärung, der seriösen Analyse und der Verbreitung ihrer Ergebnisse. Geiz mag geil sein für die Inserenten, nicht aber für die Redaktionen der Verzicht, obwohl letzterer deutlich mehr für die Freiheit der Individuen leisten kann, als ersterer.

Als Mitläufer, kurzfristige Ökozid-Gewinnler und willige Vollstrecker der kapitalen Konsum-Gier sind stattdessen ausgerechnet wir, durch Wohlstand und Infrastruktur gepolsterten „Konsum-Individualisten“ der demokratischen Länder, am weitesten von den realen Auswirkungen, des sich schon in voller Fahrt befindenden Ökozids, entfernt. Und je größer unser Abstand von Hungersnöten und steigenden Grundnahrungsmittelpreisen, desto unverantwortlicher unser Handeln, obwohl gerade wir über die größten Handlungsspielräume verfügen. Australien liegt vor den USA, und die USA vor Europa auf der Skala der allgemeinen Verantwortungslosigkeit.

Zivilcourage? Was bedeutet das im Angesicht des Ökozids?

Je mehr Handlungsspielraum ein Mensch hat, um ein Verbrechen zu verhindern, desto mehr Verantwortung trägt er für dessen Verhinderung. Eine unterlassene Hilfeleistung [3] ist wiederum selbst ein Verbrechen. Die Verbrechen gegen die Zukunft der Menschheit sind, vor allem den Entscheidungsträgern, hinlänglich bekannt. Die Meldungen davon erreichen uns im Stundentakt. Unwissenheit darüber ist in der „Wissensgesellschaft“ und in Zeiten des allgegenwärtigen Internets nicht nur unplausibel, sondern eine Lüge. Unwissenheit ist nur noch durch Mutwillen zu erzwingen. Das Wegschauen der politischen Entscheider ist ein bewusster Akt, um aus dem Mitläufertum der etwas weniger Informierten und aus den Desinformierten, Falschinformierten oder tatsächlich Unwissenden, ihre kleinen und großen Gewinne zu schlagen. Der Mutwillen setzt sich fort bis zur untersten sozialdemokratischen Parteisoldatin, die vor einiger Zeit bei einer öffentlichen Veranstaltung, und zur Schande ihrer sozialdemokratischen Urahnen wörtlich verkündete: „WIR WOLLEN GAR NICHTS WISSEN!“ An dieser kritischen Stelle, wo sich Bürgerstolz zu MUTWILLIGER Ignoranz wandelt, stößt auch die plebiszitäre Demokratie an ihre ultimative Grenze.

Diejenigen, die gegen die „Propheten“ der Ökokatastrophe  polemisieren, machen sich selbst unglaubwürdig, wenn sie im selben Atemzug die wirtschaftliche Katastrophe heraufbeschwören, falls sich die Menschheit von ihrer irrigen Ideologie des „unsere Gier ist gut für alle“ abwenden sollte. So durchschaubar, ja offenbar und immanent das schiere Eigeninteresse der Gier-Päpste ist, so bereitwillig sind die demokratischen Massen dieser Ideologie zu folgen, so lange es genug Billig-Flüge, Billig-Autos, Billig-Benzin, Billig-Nippes und Billig-Beerdigungen gibt. Alles muss eben reichlich und deshalb billig vorhanden sein, damit möglichst jeder Demokratie-Bürger das Gefühl hat, dass die Wohlstandskurve immer nach oben zeigt.

Kollateralschäden des Wohlstands

Das durch die rücksichtslose globale Ausbeutung der natürlichen Ressourcen entstehende Leid, welches sie damit meist in den Entwicklungsländern verursachen, wird gegebenenfalls mit einer verfehlten Entwicklungshilfe, Kinderpatenschaften in Afrika und anderen Ablasshändeln sublimiert. Wenn dieses Leid dann unsere Demokratien erreicht,  ist es für menschliches Handeln zu spät, und, wenn die Macht nicht schon vollends an bereitstehende Autokraten oder Diktatoren abgegeben wurde, dann würde die schwarze Stunde der Demokratien endgültig anbrechen, wenn zu guter Letzt ein oder mehrere demokratische Völker andere Völker „bürger-demokratisch“ in den Untergang schicken. Die Vorläufer einer solchen Politik erleben wir ja schon heute, spätestens seit dem Beginn des Irak-Krieges.

Wie viel fremdes, ja sogar eigenes Leid und Zerstörung sind „moderne“ DemokratInnen bereit für Ihren heutigen Wohlstand in Kauf zu nehmen? Weltweit jedes Jahr mehr als eine Million Tote durch motorisierte Straßenfahrzeuge? Riesige ölverseuchte Landstriche und Meeresregionen? Gerodete Urwälder, ausgerottete Tierarten, verseuchte und leergefischte Meere? Oder in Deutschland 60 Milliarden Euro Kosten, netto, also nach Umwelt-, KFZ und andere Steuern, für das Straßenverkehrswesen, im Gegensatz zur Schiene?
Der „Burnout“ der relativ immer weniger werdenden und immer produktiver arbeitenden Individuen, ist der Burnout des Systems, aus dem, zu guter Letzt, die Sinnfrage wie Phönix aus der Asche steigt. Dann aber vermutlich zu spät, da nicht anzunehmen ist, dass diese Asche noch fruchtbar sein wird, wenn ihr buchstäblich der Boden und die Ressourcen fehlen, die man für das letzte Quäntchen „Wachstum“ verbrannte, anstatt sie für die rechtzeitige Umstrukturierung unserer Lebenserhaltungssysteme zu verwenden.

Das ewige Wirtschaftswunder

Vieles scheint die Bürgerdemokratie zu ertragen, aber auf jeden Fall nicht den Abschied vom ewigen Wirtschaftswunder. Schon der Verzicht auf das eigene Auto wird polemisch mit einer „Rückkehr in die Steinzeit“ verglichen. Das permanente Wirtschaftswachstum ist eine Religion, die die demokratischen Bürger nach jahrzehntelanger medialer Konditionierung verinnerlicht haben, zumal es doch bisher die immer größer werdende Ungleichheit mit individuell wachsendem Wohlstand kaschierte, wie uns Professor Franz Josef Radermacher von der „Global Marshall Plan Initiative“ eindrucksvoll erklärt.[4] Dabei ist es genau diese Wirtschaftswachstumsideologie, die uns der postindustriellen „Steinzeit“ mit rasenden Schritten näher bringt.
Schon im Jahre 1869 hatte John Stuart Mill die Notwendigkeit für einen „stationären Zustand“[5] jenseits des Wirtschaftswachstums erkannt und sah die ökologischen und sozialen Probleme und die faktische Unmöglichkeit eines immerwährenden wirtschaftlichen Wachstums voraus. Die Realität unserer Gegenwart bestätigt seine These.

Verzichten, um zu überleben

Um zu überleben VERZICHTET der vernünftige Diabetes-Patient auf zu fette und zu süße Speisen, der Alkoholiker auf Bier, Wein und Schnaps, und so weiter. Es bleibt offen ob eine Bürgerdemokratie, die bisher eher durch NIMBY-Reflexe und Anti-Haltungen aufgefallen ist, ähnlich vernünftig zwischen vermeintlichen und echten Bedürfnissen unterscheiden und sich in weiser Voraussicht an den entscheidenden Stellen auf lebenserhaltenden Verzicht einigen kann. Im Zweifel werden sich die Bürger für Altbewährtes entscheiden und sich an den liebgewonnenen Gewohnheiten und Illusionen festhalten. Es bedarf einer starken Dosis Philanthropie, um zu glauben, dass eine Bürgerdemokratie pro-aktiv die weltweit zu bewältigende Umweltkrise, nach der Maxime „Global denken, lokal handeln“, meistert. Schon im Kleinen sind die Bürger vor Ort nicht dazu in der Lage, wie exemplarisch die Auseinandersetzung um den Gethsemaneplatz, im  Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, dokumentiert.

Die quintessentielle Frage, mit der sich speziell eine deutsche, europäische, westliche Bürgerdemokratie, in einem historisch neuen Kontext, konfrontieren muss, lautet: „Wollen wir den industriell aufstrebenden Giganten China und Indien, in denen zusammen genommen ungefähr 30 mal mehr Menschen leben, als in Deutschland, mit unserem gegenwärtig verschwenderischen, nicht nachhaltigen Lebensstil, weiter Vorbild sein?“ Oder sind wir in der Lage uns so weit zurückzunehmen, dass der Ressourcengerechtigkeit genüge getan ist? Eine Gerechtigkeit, die wir nicht mehr mit herablassender Geste verteilen, sondern die immer lauter eingefordert, oder genauer, in Anspruch genommen wird. Wie wollen wir diesen Ländern glaubhaft die notwendige Menge Verzicht nahe legen, ohne den unsere Lebensgrundlagen zerstört werden, wenn wir selbst zuvor nicht bereit sind ihn zu leisten?


[1] Suffizienz, Effizienz und Konsistenz  siehe:  http://de.wikipedia.org/wiki/Suffizienz_(%C3%96kologie)

[2] Rebound  siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Rebound_(%C3%96konomie)

[3] § 323c StGB - Unterlassene Hilfeleistung
„Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft."

[4] Professor Franz Josef Radermacher zu Wirtschaft ohne Wachstum www.youtube.com/watch?v=llXzkzRvuqg

[5] John Stuart Mill, „Grundsätze der politischen Ökonomie“ (Buch 4, Kapitel 6)  „Über den stationären Zustand“