Die Vorherrschaft des Autos beenden
 
 
Global denken - lokal handeln
 
Editorial  
               
 

2.12.2014
Karambolagen auf dem Kaffeetisch
„99 Crashes“ -  Klaus Gietinger, Westend Verlag, 270 Seiten, €17,99

von Frank Mankyboddle


Mit „99 Crashes“ liefert Klaus Gietinger den „Coffee Table“-Nachfolger zu seinem „Autohasserbuch“ „Totalschaden“.

Aufgrund seines gelegentlich flapsigen, leicht zynisch-gehässigen Stils, mag das Buch in Anbetracht des beschriebenen Grauens nicht jedem gefallen, vor allem wenn die tödlichen Unfälle der eigenen Idole erzählt werden. Andererseits darf man einem Autor, der das System Auto als Massenvernichtungswaffe seit Jahrzehnten geißelt, ohne dass beim Mainstream bedeutende Veränderungen im Verhältnis zur eigenen Raserei zu beobachten sind, einen gewissen Zynismus zugestehen. Gietinger erteilt seiner Haltung zudem gleich vorab selbst die Absolution, indem er den beschriebenen Autounfällen den Status der Tragödie, da selbst verschuldet, und vor allem andere gefährdend, aberkennt: „Nun, tragisch ist ein Ereignis, an dem man keine Schuld hat. Aber ein Kfz steuern heißt, schon von vornherein Schuld auf sich zu laden, indem man die Möglichkeit eines lebensgefährdenden Verkehrsunfalls billigend in Kauf nimmt: Lebensgefährdend für Fußgänger, kann schon die geringste Geschwindigkeit sein, ab 50km/ ist sie fast garantiert tödlich und für die Insassen ab 100km/h.“

Gut und schön, wenn es einen James Dean beim Rennen mit anderen jugendlichen Rasern trifft. Doch eine nicht so kleine Zahl der beschriebenen Beifahrer unter den Opfern dürften nur einen sekundären Einfluss auf ihre Todesfahrt gehabt haben, zumal das System Auto bekanntermaßen seine eigenen Zwänge verursacht, die den einzelnen Fahrer durchaus zu einem tragisch verstorbenen „Autler“ machen können, ganz zu schweigen von den tragischen Persönlichkeitsprofilen, die zu so einem Tod führen mögen.

Wer Gietingers mangelndes Mitgefühl, aufgrund seiner ansonsten moralisch integren Absicht, trotzdem entschuldigen kann, der hält mit „99 Crashes“ eine unterhaltsame, informative, meist kurzweilige, und in seiner Struktur leicht verdauliche, Lektüre für den Kaffeetisch in den Händen. Auf selten mehr als vier Seiten erzählt er, in chronologischer Reihenfolge, jeweils die Geschichte eines tödlichen Autounfalls, einer oder mehrerer prominenter Personen zwischen 1896 und 2013. Vom ersten offiziellen Autoopfer der Geschichte, Bridget Driscoll, über Isadora Duncan, Lawrence von Arabien, General Patton, James Dean, Jackson Pollock, Grete Weiser, Marc Bolan, Barack Obama Senior, Lady Di bis Jörg Haider und Paul Walker, hat der, historischen Stoffen geneigte, Autor mit „99 Crashes“ eine äußerst heterogene Liste prominenter Autoopfer der letzten 120 Jahre näher betrachtet.

Jede Geschichte enthält ein Kurzporträt der Person am Steuer und einen Absatz mit der Überschrift „Der Weg in den Tod“. Dazu gelegentlich die Absätze mit den Überschriften „Verschwörungstheorie“ und „Zutreffend?“ mit einer manchmal ironischen Einschätzung der „Verschwörungswahrscheinlichkeit“ in Prozent. Am Ende jedes Kurzkapitels befindet sich dann noch eine Tabelle mit den Zahlen der Verkehrstoten weltweit, bis zum  jeweiligen Jahr des Unfalls und die Zahl der Verkehrstoten im jeweiligen Land und Jahr.
Die Fakten zum Autowahnsinn, die Gietinger schon in „Totalschaden“ umfassend, gründlich und trotzdem sehr lesbar aufgearbeitet hat, werden in besagter Weise und in der Einleitung nur kurz umrissen: 50 Millionen Autotote, die seit Erfindung des Automobils keinem höheren Sinn geopfert wurden, als der Raserei und Platzgier, machen jeden Leser fassungslos, der von der vermeintlichen Alternativlosigkeit des System Auto noch nicht völlig indoktriniert und benebelt ist. Und jedes Jahr steigt weltweit die Zahl der Autototen. 2014 waren es über 1,2 Millionen. Gietinger weist vor allem daraufhin, dass zu allem Übel auch meist noch den Opfern die Schuld gegeben wird, weil „man annimmt dem Auto gehöre die Straße. Dabei gibt es kein Gesetz, das dies so bestimmt. Das Auto hat sich die Straße gewaltsam – und ohne jedes Recht – genommen und die anderen haben das Nachsehen…“

Die Liste der destruktiven Begleiterscheinungen der „Kraftfahrzeuge“ ist lang, im Gegensatz z.B. zur Eisenbahn, mit der unsere Mobilität genauso gesichert wäre, wenn sie nur genauso konsequent ausgebaut worden wäre, wie das System Auto.

Dem Drehbuchautor und Regisseur könnte dieses Buch als Vorlage für einen neuen Film dienen. Ein Kinofilm, der den Autowahnsinn schlagend entlarvt, ist längst überfällig. Über den roten Faden eines Erzählers könnte das mit dieser bilderreichen Vorlage gelingen, wobei dem Autor eine transatlantische Kooperation ans Herz zu legen ist, um dem Thema den nötigen „Drive“ (Sic!) zu geben und einen internationalen Kinoschlager, ggfs. mit Starbesetzung, zu diesem Thema wahrscheinlicher zu machen. Der Film sollte glamourös, schockierend, sarkastisch, aufrüttelnd und vor allem aufklärend zugleich sein und hoffentlich ein großes Publikum erreichen. Klaus Gietinger könnte den 50 Millionen Autototen das Denkmal setzen, das er in der physischen Welt bisher vermisst.